Frankreich/France

Vénissieux, den 12. April 2020 um 21h30

Richmod

Ostersonntag 2020. Ich bin die Mutter einer vierköpfigen Familie, meine Kinder sind 13 und 16 Jahre alt. Wir haben alle die deutsche und die Schweizer Staatsbürgerschaft, wohnen aber gut zwei Jahrzehnte in Frankreich. Mittlerweile sind wir seit vier Wochen im Hausarrest. Das hat in unserem Fall besonders Sinn gemacht, denn alle bis auf den Jüngsten hatten gleich zu Anfang dieser Zeit die klassischen Symptome von COVID-19: Gliederschmerzen, Fieber, große Erschöpfung, Verdauungsprobleme, Verlust und Geruchs- und Geschmackssinn…Testen wollte uns aber niemand mehr. Telefonisch wurde uns bedeutet, auf keinen Fall zum Arzt zu rennen, solange wir nicht im Sterben liegen, und uns selbst auszukurieren. Daran haben wir uns gehalten. Es war kein Spaß. Vermutlich sind wir jetzt immunisiert, stellen keine Gefahr für andere mehr dar und haben auch um uns selbst keine Angst mehr. Aber was nützt uns das, denn wir dürfen das Haus sowieso nicht verlassen. Der französische Präsident wird in seiner Ansprache am Abend des Ostermontags sicher sagen, dass dies noch eine Weile so blieben muss.

Das klingt alles furchtbar und ist es auch, wenn man die Nachrichten sieht. Doch ohne diese schlimmen Neuigkeiten wären wir um Großen und Ganzen glücklich. Wir bewohnen eine Jugendstil-Villa mit Garten ringsum, mit zwei Hasen, einem Huhn und der Katze des Nachbarn. Die Vögel zwitschern, die Frösche quaken. Alles blüht, rankt, reckt sich. Die Natur zeigt mir, dass sie die Menschen nicht braucht. Seit dem Tag, an dem in Frankreich das Fallgitter runterging, haben wir Postkartenwetter, klar und blitzblau. Da kaum noch Autos fahren, ist die Luft viel sauberer, der Großstadtlärm ist verebbt. Es ist so warm, dass man nachts die Fenster auflassen kann.

Das Familienleben verläuft harmonisch – wir haben aber auch Platz, um uns aus dem Weg zu gehen. Werktags sind die Kinder per Computer „in der Schule“; mein Mann und ich arbeiten per Internet, so gut es eben geht. Ansonsten bastelt jeder in seiner Ecke herum. Dann treffen wir uns wieder in Küche, spielen gemeinsam ein Gesellschaftsspiel oder suchen uns einen Film aus fürs Heimkino (wir haben kein Fernsehen). Da wird manches Vergessene hervorgekramt oder endlich mal zu Ende gebracht, wozu man sonst „nie gekommen“ ist. Den 13. Geburtstag meines Sohnes haben wir natürlich daheim feiern müssen. Das hat ein bisschen Phantasie gebraucht, aber das Ergebnis hat uns allen Freude gemacht, auch wenn er seine Freunde nur per Visio-Konferenz sehen konnte. Ein Tag geht in den nächsten über. Ich mache kleine, farbenfrohe und vitaminreiche Mahlzeiten (ohne Sport essen wir nicht so viel), und dann sitzen wir im Grünen und blinzeln in die Sonne. Ohne die Nachrichten via Internet würde es sich anfühlen wie ein einziges wunderbares Wochenende. Heute, zum Ostersonntag, habe ich ein Osterlamm gebacken und das Haus dekoriert. Die Kinder haben Eier gesucht. Eine leichte Brise trägt die Blütenblätter über die Wiese, und es sieht aus wie weißes Konfetti… Jeden Abend genau um acht Uhr stehen wir auf der Terrasse und klatschen und pfeifen für die Ärzte und Pfleger im Einsatz. Wenn wir still sind, hören wir die anderen Leute. Der Abendwind trägt den Applaus über die dämmerige Stadt.

Natürlich fehlen uns der Sport, die Ausflüge und langen Wanderungen, aber auch die Flohmärkte und Einkaufsbummel. Unsere Theater-, Opern- und Konzertkarten der gesamten übrigen Saison (der März war besonders dicht) habe ich einschicken müssen. Restlos gestrichen ist auch die Reise nach Island via England im April, auf die sich die ganze Familie sehr gefreut hatte. Am meisten wurmt es mich, dass ich nicht mein Versprechen wahrmachen konnte, den Kindern zu Ostern zwei echte Küken zu schenken, schon damit das Huhn (solo seit Neujahr) wieder Gesellschaft hat. Das sind so meine Sorgen!

An ein paar Dinge werde ich mich erinnern, wenn der Spuk vorbei sein wird.

Vor allem an ein Gefühl von Surrealität. Ich kenne die Zahl der Toten (jeden Tag vor dem Frühstück schaue ich nach, bevor die Kinder aufstehen). Ich weiß auch, wie viele Menschen durch die Pandemie in Existenznot kommen. Ich weiß ebenfalls, dass es in unserer Nachbarschaft viele Familien mit kleinen Kindern gibt, die in Wohnungen eingesperrt sind, manche ohne Balkon. – Und doch kann ich dieses Wissen nicht mit dem in Einklang bringen, was ich erlebe. Es bleibt irgendwie abstrakt. Wer kann sich zigtausend Tote vorstellen? Latent habe ich deshalb ein schlechtes Gewissen. Das ist einer der Gründe, warum ich seit vier Wochen Italienisch lerne. Es ist meine sehr persönliche Art, zu zeigen, wie ich mit Italien leide. (Mittlerweile sollte ich natürlich auch Spanisch und eine Reihe anderer Sprachen lernen – ich komme nicht nach.) Ab und zu taucht aus der Flut der Nachrichten ein Schicksal auf, das mich tief berührt. Die sechzehnjährige französische Schülerin (so alt wie meine Tochter), die innerhalb kurzer Zeit und gegen alle statistischen Voraussagungen von COVID-19 hinweggerafft wurde. Oder die italienische Krankenschwester, die sich das Leben genommen hat, nachdem sie erfahren hatte, sie sei infiziert und habe vermutlich andere angesteckt. Oder der Vater einer Bekannten, der in Paris stirbt, und seine Tochter kann nicht aus Israel anreisen zu seiner Beerdigung. Ich arbeite viel im Garten und pflanze Blumen. Für den Herbst. Für später. Für die Zukunft.

Seltsam unwirklich ist auch das Gefühl, in einer Blase zu leben, in einer Welt jenseits von Raum und Zeit. Haben wir uns nicht alle schon gewünscht, einfach mal aus dem Alltag und dem Stress auszusteigen, eine Runde auszusetzen, nicht mitzumachen – so eine Art Schalttag zu haben, der nicht zählt und über den man frei verfügen kann, ein Geschenk wie die eine Stunde, wenn die Sommerzeit zu Ende geht? Warum braucht es eine Pandemie, damit die Menschen begreifen, was wirklich wichtig ist? Normalerweise hätte meine Familie noch am letzten Arbeitstag vor Ostern in aller Hast gepackt und wäre 400 km zu den Schwiegereltern gefahren. Dort hätte man uns nach Strich und Faden verwöhnt, und Ostern hätte für mich wie immer nicht stattgefunden. Es wäre wie auch Weihnachten und alle Jahre wieder ein Strudel gewesen von viel Zuviel: zu viel Essen, zu viel Trinken, zu viel Reden, zu viel Versuche, sich den Anderen zu erklären oder sich darzustellen – dann im letzten Moment heim nach Frankreich im Schweinsgalopp, müde und innerlich wund, zurück zu überquellenden Wäschekörben und einem Alltag, der eigentlich seinen Sinn und Lohn in sich trägt, nähme man sich nur die Zeit, ihn zu leben.

Die Pandemie bringt das Beste und das Schlechteste im Menschen zum Vorschein: blanken Egoismus oder Solidarität. Das merke ich schon beim Einkaufen. Manche Leute schauen sich nicht mal mehr in die Augen, als könne man sich schon durch einen Blick anstecken. Andere legen gerade in dieser schwierigen Zeit Wert darauf, sich aus der Distanz höflich zu grüßen und Mensch zu bleiben.

Die Pandemie macht nachdenklich. Das ist gut so. Nicht alles, was möglich ist, muss auch sein. Nachdenklich macht auch die Rolle, die der Mensch dabei gespielt hat, dass dieser Virus entstehen und überspringen konnte. Das hat viel mit Tierschutz und artgerechter Haltung zu tun, letztendlich mit Respekt vor dem Leben. Ich hoffe, wir lernen alle, langsamer und bewusster zu leben und leben zu lassen.